von Nea Brunn

CW: Dieser Text setzt sich mit sexueller Belästigung auseinander und schildert diese. In diesem Text wird der Begriff „Menners“ verwendet. Er bezieht sich auf männlich gelesene, männlich sozialisierte und sich als Männer identifizierende Personen, die von patriarchalen Strukturen profitieren und diese ausleben. Dabei ist es egal, ob dies bewusst oder unbewusst geschieht.

Kennen Sie das auch? Eigentlich wollen Sie nur von A nach B gehen. Sie tragen einen Oversized-Hoodie und eine Einkaufstasche über der Schulter. Heute ist ein bad hair day. Grade wollen Sie über die Straße gehen, da zerschneidet ein Pfiff die Luft. Sofort wissen Sie, dass er ihnen gewidmet ist. Sie drehen sich nach der Quelle um und begegnen dem grinsenden Gesicht eines Mannes, der bestimmt doppelt so alt ist wie Sie. Endlich wird die Ampel grün. Sie beschleunigen Ihre Schritte. Jemand hupt.
Wenn Sie das kennen, dann ist dieser Text für Sie. Denn dies ist ein Text über Catcalling. Also ist dies ein Text über Gewalt.

Catcalling ist nicht nur ein unerwünschter Kommentar im Vorbeigehen. Es ist eine perfide Art und Weise, den von Queers und insbesondere FLINTA* so wenig beanspruchten öffentlichen Raum systematisch zu vergiften. Es geht vor allem um Machtdemonstrationen und Kontrollausübung. Ein pures „Schau, was ich mit dir machen kann“ und eine Methode von Menners, sich in ihrer eigenen Männlichkeit zu behaupten und somit ein Ausdruck von Dominanzkultur in ihrer reinsten Form.

Die Folgen dieser Form von Gewalt sind in den meisten Fällen psychisch und schlagen sich im Verhalten der Betroffenen nieder. Da werden Routen für den Nachhauseweg geändert, mensch verzichtet auf den Drink und nimmt noch eine weite Hose mit, für die Bahnfahrt nach dem Clubabend. Somit grenzt Catcalling gezielt die Autonomie von queeren und FLINTA* Personen ein. Obwohl Catcalling nichts anderes ist als sexuelle Belästigung, die für viele Menschen bereits ab der Vorpubertät oder früher beginnt, ist es in Deutschland keine Straftat, während es in Frankreich, Belgien oder den Niederlanden bereits unter Strafe gestellt ist und zur Anzeige gebracht werden kann. Wie kann es sein, dass eine Form systematischer Gewalt, die mutmaßlich mehr als die Hälfte aller Menschen auf diesem Planeten betrifft, noch immer als eine Art Kavaliersdelikt betrachtet und dementsprechend nicht geahndet wird?

Als gewaltsamer Eingriff in die eigene Sphäre von insbesondere weiblich gelesenen und queeren Menschen sendet Catcalling ein klares Signal: die Straßen gehören nicht uns. Nicht am Abend, nicht an öffentlichen Plätzen oder Verkehrsmitteln. Also gar nicht, eigentlich. Maximal vielleicht noch in der queeren Bar oder der Boulderhalle oder ähnlichen Habitaten der Community.

Tatsächlich haben jedoch auch Queers und FLINTA* ein Leben, das sich außerhalb der eigenen oder gemieteten vier Wände abspielt. Wenn es um Catcalling geht, eine Subkategorie von systematischer Misogynie oder Queerfeindlichkeit, dann wird oftmals schlicht den Betroffenen die Verantwortung zugeschoben. Etwa empfiehlt bei einer schnellen Googlesuche der KI-Assistent Gemini als eine der ersten Maßnahmen gegen Catcalling, dass mensch sich aus der entsprechenden Situation entfernt. Dieses Narrativ ist so allgegenwärtig, das es sich als eine allgemein akzeptierte Wahrheit etabliert hat: Wer nicht gecatcalled werden will, oder „schlimmeres“, geht nicht nach Einbruch der Dunkelheit vor die Tür, läuft nicht allein von A nach B schafft sich im besten Fall ein paar männlich gelesene Freundespersonen an, in deren Gegenwart mensch sich allzeit bewegt. Somit wird Catcalling und die damit schamlos und gezielt reproduzierte Gewalt, die Queers und FLINTA* beinahe tagtäglich angetan wird, entweder verharmlost – „das ist ein Kompliment“ – oder die Schuld daran den Betroffenen in die Doc Martens oder Vans geschoben.

Es gibt keine bewährte Maßnahme, die gegen Catcalling hilft, denn es ist nicht möglich, Menners aus dem öffentlichen Raum zu entfernen. Es ist egal, was mensch trägt, ob tief ausgeschnittenes Top, T-Shirt in Übergröße, Make-up oder gar keine Schminke. Ob am Ausbildungsplatz, auf der Straße oder in der Bahn, mensch muss immer vorbereitet sein auf einen Kommentar, einen stechenden Blick im Vorbeigehen, auf aufdringliches Hupen, auf Zwinkern, Grinsen, Pfeifen, Starren ohne Unterlass. All das, einfach weil mensch als sichtbarer Körper existiert.

Dadurch wird der reine Akt des „Rausgehens“ zu einer Frage mentaler Kapazität. Habe ich heute die Energie, ich selbst zu sein, in aller Öffentlichkeit?

Die wenigen wissenschaftlichen Untersuchungen, die sich mit den Motiven hinter Catcalling befassen, zeigen, dass Menners sich der Tragweite ihres Verhaltens nicht bewusst sind oder dass es sie nicht interessiert. Laut Befragungen gibt eine große Mehrheit der Menners an, dass es sich bei Catcalling um „eine normale Art des Flirtens“ oder ein „Kompliment“ handelt – eine typische Art der Verharmlosung von Tatbeständen, die vor allem FLINTA* und Queers betreffen. Die Realität ist, dass diese „normale Art des Flirtens“ zutiefst herabwürdigend ist, Menschen zu sexualisierten Objekten degradiert und ihrer Identität beraubt.

Es ist Sommer 2024. Mit meiner damaligen Freundin laufe ich Hand in Hand am Saarufer entlang, als wir einer Gruppe Menschen ins Auge fallen, die auf dem Rasen im Bürgerpark faulenzen und trinken. Erst spüre ich die Blicke, dann kommt auch schon der Spruch:

„Mit den beiden hätte ich auch gerne mal einen Dreier“

Dann Gelächter, während mein Herz zu rasen beginnt, meine Schritte sich automatisch beschleunigen, mir die Hitze ins Gesicht steigt. Das Einzige, was ich will, ist der Situation zu entkommen, während meine Freundin der Gruppe noch den Mittelfinger zeigt.

Wie immer bei einem solchen Ereignis fühle ich mich beschmutzt. Ich schäme mich. Aber ich will die Verantwortung für diese Scham nicht, will nicht, dass Widerlinge wie diese solch eine Macht über meine Gefühlswelt und mein Selbstbild als Frau und Lesbe besitzen. Wie also umgehen mit dieser Gewalt? Denn die Scham nach dem Geschehnis am Saarufer besitzt noch eine andere Dimension, außer der Sexualisierung. Weil ich nichts gesagt habe, mich nicht gewehrt habe, weggerannt bin. Mein „Fight or Flight“-Instinkt entscheidet meist zugunsten der Flucht. Nur natürlich, denn in vielen Situation sind Queers und Flinta* darauf konditioniert, eine Entscheidung zu treffen zwischen „Stehe ich für mich selbst ein oder setze ich meine körperliche Unversehrtheit aufs Spiel?“.

Ich werfe mir selbst vor, ich hätte Haltung zeigen müssen. Nicht nur für mich, sondern für alle meine fellow Queers und Flinta*. Seit Jahren beschäftigt mich dieser Gedanke immer wieder: Wie reagiere ich, reagiere ich überhaupt, oder ist es nicht besser den Menners mit Ignoranz zu begegnen? Viele Betroffene haben nicht die Energie, auf jede Attacke zu reagieren, wenn das überhaupt sinnvoll ist. Oft fehlt mir selbst die Schlagfertigkeit, die es vielleicht bräuchte, um die Aggressoren mundtot zu machen, und wie viele weiblich sozialisierte Personen habe ich die Erfahrung gemacht, dass auf gerechtfertigten Zorn mit Spott reagiert wird. Aber die Wut – die bleibt.

Laut einem Forschungsprojekt des kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen unter Dr. Lena Lehmann berichten knapp 80% weiblich gelesener Personen und über 80% queerer Personen, schon einmal Erfahrungen mit Catcalling gemacht zu haben. Trotzdem sind wir keine Opfer. Wir sind betroffen, und mehr und mehr ist es an der Zeit, diejenigen zur Verantwortung zu ziehen, die uns in diese Rolle drängen.

Eine Antwort darauf, was wirklich hilft, was wirksam ist, nach der suche ich noch immer. Meist ist es eine situationsabhängige Entscheidung, wie mensch reagiert. Es gibt keine Pflicht zum Handeln, doch was es gibt, das sind kleine und große Akte der Rebellion gegen die Symptome patriarchaler Dominanzkultur. Bellt vielleicht mal die Menners an. Starrt zurück, bis es unangenehm wird. Erlaubt euch diese so oft unterdrückte Wut. Sucht euch Menschen, die euch ähneln, halten und lieben, so wie ihr seid. Denn das wohl wirksamste Mittel gegen diese systematischen Strukturen ist das „Trotzdem“, das Existieren und Lieben im Angesicht der stupiden Aggression.

Bleibt wachsam, bleibt sichtbar, bleibt laut und bunt und wunderbar, bleibt unangepasst.

Bleibt bissig.