Von Hannah

Eine kleine Blume schmückt den linken Handrücken meines Vaters. Als er in den 70ern mit dem „Baby Power Bus“ und seinen Besitzerinnen – einer Gruppe frisch gebackener Mütter – durch Westeuropa gereist war, durfte ein selbstgestochenes Erinnerungstattoo einfach nicht fehlen. Wenn ich jetzt in sein lachfaltenüberzogenes Gesicht und seine in Erinnerung schwelgenden Augen schaue, während er mal wieder von einem seiner skurrilen Erlebnisse erzählt, kommt mir die Hippiezeit gar nicht mehr so fern vor. Nur um mir die langen blonden Haare auf dem Kopf meines Vaters auszumalen, reicht meine Vorstellungskraft dann doch nicht.

Glücklicherweise existiert das ein oder andere Bild, das die Tatsache unanzweifelbar macht: Auch unsere Eltern waren einmal jung.

Der zwanzigjährige Junge, der so gerne Meeresbiologe geworden wäre und jetzt mit Freunden einen Club betreibt, in dem er sonntags seine heißbegehrten Überraschungspfannkuchen anbietet. Das achtzehnjährige Mädchen, das mit ihren Mitbewohnern auf Antifa-Demos geht und furchtbar schmeckende Guarana-Drinks frühstückt, um keinen wichtigen Gig bei Rock am Ring zu verpassen.

Auch wenn ich weiß, was über die Jahre aus ihnen geworden ist, würde ich den beiden heute gerne mal über den Weg laufen, sie zufällig in einer Bar treffen und mit ihnen über Gott und die Welt philosophieren.

Mich interessiert es, wie viel Jugend noch in meinen Eltern steckt, welche Überzeugungen auf der Strecke geblieben sind und inwiefern all das, was ich heute erzählt bekomme, nur das nostalgische Abbild der Vergangenheit ist. Die Antworten darauf werde ich wahrscheinlich nie erfahren. Denn je mehr Zeit vergeht, desto größer wird die Distanz zu den Geschehnissen. Im Hinblick auf meine eigene Zukunft würde ich diese Distanz manchmal gerne überwinden, da ich befürchte, nicht alles von dem nachvollziehen zu können, was ich gerade denke und erfahre.

Andererseits reizt es mich, die Distanz zu meiner jetzigen Situation zu vergrößern, um mir ein klareres, nüchternes Bild zu machen. Doch wie wir alle stecke ich in meinem eigenen Körper, der seinen Platz nun mal in den Gesetzmäßigkeiten der Erde und deren linearen Zeitverlauf hat. Wir sind uns selbst keine fernen Verwandten, die wir einmal im Jahr sehen und sofort erkennen, wenn sie seit unserem letzten Aufeinandertreffen zwei Zentimeter gewachsen sind. Wir bemerken weder, wie wir altern, noch wie sich unser engstes Umfeld wandelt, weil wir jeden Tag Bestandteil davon sind. Wir werden vermutlich niemals aufwachen und plötzlich realisieren, dass wir erwachsen geworden sind. Die Veränderung schleicht sich einfach unbemerkt in unser Leben.

Denn auch wenn wir seit jeher versuchen, die Zeit in Epochen und Zeitalter zu unterteilen, bleibt das Leben ein andauernder, niemals pausierender Prozess. Der Zug, in dem man so oft sinnbildlich gesprochen sitzt, befindet sich ständig auf der Fahrt und beschleunigt manches Mal so sehr, dass die Bilder hinter den Fensterscheiben bis zur Unkenntlichkeit verschwimmen. Wer dabei versucht, auch noch rechts und links einen Blick zu erhaschen, wird enttäuscht.

Wir haben nur zwei Augen, diese eine unsere Perspektive, aus der wir die Welt wahrnehmen können. Mal schaut einer zur einen, der andere zur anderen Seite aus dem Fenster. So werden wie unsere Beobachtungen auch unsere Geschichten nie die gleichen sein. Jede klingt unterschiedlich und entspricht auf individuelle Weise der Wahrheit. Und genau wie mir jetzt die Augen meines Vaters von den Bildern seiner Jugend erzählen, schenke ich ihnen Glauben und hoffe darauf, noch lange nachvollziehen zu können, was mir gerade dabei durch den Kopf geht.


Platzhalter*in

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