Queerpolitischer Jahresrückblick von Lis Walter | aus der out! – Zeitschrift des Jugendnetzwerks Lambda e.V. | Inhaltswarnungen: Queer- und Transfeindlichkeit, Suizid, Illegalisierung

Ganz langsam steckt 2022 seinen Kopf durch die Tür. Doch Stopp! Bevor wir mit 2021 abschließen, lasst uns doch mal gemeinsam schauen, was dieses Jahr so Gutes und nicht so Gutes aus queerer Perspektive passiert ist! Der Versuch eines queeren Jahresüberblicks.

Sechs Mal Gutes 2021:

1. Trotz immer unterdrückenderen Rhetorik der polnischen Regierung gegen Queers demonstrierten Tausende zur Pride-Parade in der Hauptstadt Warschau.

Und gleichzeitig reagiert die EU-Kommission auf Verabschiedung queer-feindlicher Erlasse im konservativen Süden und Osten des Landes, indem sie Fördermittel sperrt und auch ein allgemeines Vertragsverletzungsverfahren gegen das Land einleitet.

2. US-Präsident Joe Biden revidiert die Anordnung seines Vorgängers Donald Trump

zum Ausschluss von trans* Personen aus dem Militär und macht deutlich, dass keinem Mitglied der US-Streitkräfte der Dienst wegen seiner Geschlechtsidentität verweigert werden darf.

3. Besser spät als nie:

Die Schweizer Bevölkerung stimmt in einer Volksabstimmung mit großer Mehrheit für die Ehe für alle. Außerdem: Ab 1.1. 2022 wird es in der Schweiz einfacher sein, das auf amtlichen Dokumenten erfasste Geschlecht zu ändern. Die Schweiz verabschiedet sich damit von teuren Gerichtsverfahren und übergriffigen psychiatrischen Gutachten und macht damit den Weg frei für mehr geschlechtliche Selbstbestimmung.

4. In Indien gibt es gleich zwei queere Erfolge zu verzeichnen:

Haima Simoes und Shruti Venkatesh sind das erste queere Paar auf dem Cover der Modezeitschrift Vogue in Indien. Außerdem verbietet der Richter N Anand Venkatesh in Tamil Nadu als erster Bundesstaat sogenannte Konversionstherapien, also Verfahren, die queere Menschen „heilen“ sollen.

Queerness ist zwar in Indien noch immer ein großes Tabu – erst im September 2018 wurde das aus der britischen Kolonialzeit stammende Verbot von queerem Sex aufgehoben. Deshalb nimmt der im Süden gelegene Bundesstaat Tamil Nadu durch seine Entscheidung eine Vorreiterrolle ein und verbessert so das Leben von queeren Menschen.

5. Zwei Jahre nach dem pandemischen Ausbruch des Coronavirus

vereinen sich (Zehn)tausende Queers überall in Deutschland zu den Demonstrationen rund um den Christopher Street Day!

6. Queere Sportler*innen bei Olympia:

Queerness und Sport verbindet eine lange Geschichte der Tabus. In Tokio bei den olympischen Spielen sind jedoch so viele offen queere Sportler*innen wie noch nie am Start: Fast 160 offen queere Teilnehmer*innen zählt das US-amerikanische Magazin Outsports. Das sind mehr als bei allen anderen Olympischen Spielen zusammengerechnet.

Und sechs Mal weniger Gutes 2021:

1. Die rechtsnationale Orbán-Regierung in Ungarn beschließt ein queer-feindliches Gesetz:

Das ungarische Parlament hat im Juli ein Gesetz verabschiedet, das ein Verbot von Aufklärungs- und Bildungsmaterial für Kinder sowie von Werbung vorsieht, die Sexualitäten und Geschlechtsidentitäten darstellen, die von der heterosexuellen und cisgeschlechtlichen Norm abweichen.

Jedoch blieben die Gesetzesänderungen nicht unkommentiert: Mehr als 10.000 Menschen demonstrierten nach der Verabschiedung des hasserfüllten Gesetzes auf den Straßen der Hauptstadt Budapest und zeigten Solidarität mit der queeren Community. Jetzt liegt es an der EU, Maßnahmen zu ergreifen, die zeigen, dass die Europäische Union ein sicherer Ort für queere Menschen ist.

2. Kampf um queere Wohnprojekte in Berlin:

Nach der Räumung des queerfeministischen Hausprojekts Liebig34 im vergangenen Oktober ist derzeit das queere Wagenplatzkollektiv Mollies auf dem Wagenplatz der Rummelsburger Bucht in Berlin von Räumung bedroht.

3. Öffentlicher Suizid von Ella:

Im September dieses Jahres verbrannte sich die Aktivistin Ella öffentlich am Alexanderplatz. Die 40-jährige war daraufhin im Krankenhaus an den Brandverletzungen verstorben. Die Gewalt, die insbesondere trans* Frauen of Color mit Fluchterfahrung erleben, zeigt sich im Fall von Ella. Rest in Peace, Ella!

Wenn du Suizidgedanken hast, sprich darüber mit jemandem von der Telefonseelsorge: 0800/111 0 111

4. LGBT-freie Zonen und queerfeindliches Gesetz in Polen verschlechtert bereits prekäre Lage der Menschen in Polen:

Eine Mehrheit im polnischen Parlament spricht sich für das Gesetz „Stop LGBT“ aus, welches ein „Werbeverbot“ für sexuelle und geschlechtliche Vielfalt, ähnlich wie in Ungarn, vorsieht. Damit wären Pride-Paraden und queere Demos verboten.

5. Ghana: Anti-LSBTIQ-Gesetz stigmatisiert und gefährdet Queers:

Das ghanaische Parlament legt vor dem Hintergrund der bereits bestehenden Diskriminierung und Verfolgung von Queers ein Gesetz vor, welches gleichgeschlechtliche Beziehungen kriminalisiert und mit Haftstrafen droht.

6. Deutschlands Asyl- und Abschiebepolitik:

Queers und Nicht-Queers droht immer noch die ständige Abschiebung aus Deutschland. Vor den Grenzen Europas sterben Menschen. Pushbacks in Griechenland und Kroatien halten Menschen gewaltvoll und rechtswidrig davon ab, die Grenzen zu überqueren. Seenotrettung wird weiterhin kriminalisiert.

Ein Neuanfang in der deutschen und europäischen Flüchtlingspolitik ist dringend nötig. Die Anerkennung und Unterbringung schutzsuchender Geflüchteter und der Zugang zu Schutzräumen sollte auch ein queeres und feministisches Anliegen sein: Für eine Solidarität mit Geflüchteten weltweit.


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