Queere Geschichte und Widerstände in Lettland
von Male Soley
Content Notes: Queerfeindlichkeit, (staatliche) Gewalt, Transfeindlichkeit: Deadnaming, Misgendering durch Familie, Tod
Durch mein Auslandssemester in Riga, Lettland habe ich mich mit queer sein in Lettland auseinandergesetzt. Queere Geschichte und queerer Widerstand gehen dabei Hand in Hand. Die erste Pride in Riga hat 2005 stattgefunden, doch natürlich hat queere Geschichte nicht dann erst angefangen. Die Journalistin Rita Ruduša hat mit ihrem 2012 veröffentlichten Buch Forced Underground. Homosexuals in Soviet Latvia verschiedene, meist anonyme Geschichten queerer Menschen in Lettland während der Besetzung des Soviet Regimes gesammelt.
Im Interview mit Rita habe ich mehr über die Geschichte Lettland in Bezug auf queeren Widerstand gelernt. Rita ist Journalistin und zählt sich selbst nicht zur queeren Community. Zum Thema gekommen ist sie durch die erste Pride 2005 und die hasserfüllten Reaktionen, die es daraufhin gab. Ihr – und vielen anderen – war vorher nicht bewusst, dass Lettland und die Gesellschaft so queerfeindlich sei. Sie sagt, dass queer sein damals einfach kein Thema war, auch für sie und bei ihrer medialen Arbeit standen einfach andere Themen im Fokus. Durch diese queerfeindliche Gewalt wurde ihr und anderen bewusst, wie wichtig es ist, über queere Themen in den Medien zu reden.
Auch von der erster Pride hat Rita erst im Nachhinein erfahren. Durch die Berichterstattung und Augenzeug*innen hat sie damals mitbekommen, was passiert ist und ihr ist erstmals bewusst geworden, wie wichtig queere Rechte als (journalistisches) Thema sind. Seitdem ist sie fast jedes Jahr bei den Pride Veranstaltungen dabei und setzt sich mehr mit queeren Rechten auseinander.
Während die Pride in Riga heute auch viel zum Feiern und Zelebrieren genutzt wird, war es das erste Jahrzehnt lang alles andere als eine Party. Es gab viele Widerstände, Gegenproteste, Barrieren und Einschränkungen aus der Politik bis hin zu (politisch organisierten) Angriffen auf die queeren Märsche. Die Pride 2007 wurde bekannt als “the flying excrements Pride” und war besonders traumatisch für viele queere Menschen. Viele Widerstände waren dabei aus der Politik heraus motiviert, von Parteien und Politiker*innen, die Queerfeindlichkeit nutzen wollten, um Wahlerfolge zu erzielen, viele Gegenproteste wurden von der Politik angestachelt und weit im Voraus organisiert.
Die erste Pride war noch kleiner und unorganisierter. Die Organisator*innen waren nicht weiter in queere Bewegungen eingebunden und haben keinerlei Verbindungen zur heutigen Community. Über ihre Motivation ist auch nicht viel bekannt, am ehesten noch, dass sie eine Party, eine Art „Karneval“, veranstalten wollten, obwohl ein politisch motivierter Protest viel angebrachter gewesen wäre.
Nach der vierten Pride in 2008 wurde beschlossen, die Baltic Pride zusammen mit Estland und Litauen zu organisieren, um Ressourcen zu bündeln. Die erste Baltic Pride fand 2009 in Riga statt und wechselt nun immer zwischen den Hauptstädten. Inzwischen gibt es sowohl die Riga Pride als auch die Baltic Pride.
Während die Pride im Laufe der Jahre in Zahlen gewachsen ist, ist auch die Akzeptanz der Bevölkerung gegenüber der queeren Community gewachsen. So trauen sich zwar immer noch viele queere Paare nicht, Händchen zu halten, aber es wurde am 09.11.2023 das Civil Partnership Law verabschiedet, welches gleichgeschlechtliche Paare inkludiert. Das Gesetz soll nicht verheirateten Paaren mehr Rechte geben, ist aber keine vollständige Gleichstellung zur Ehe. Davor wurden vom Rechtssystem schon mehr als 30 gleichgeschlechtliche Paare als Familien anerkannt, aber dass es jetzt ein richtiges Gesetz gibt, ist ein wichtiger Erfolg, für den lange gekämpft wurde. Es gibt inzwischen viel mehr offen queere Menschen und unter anderem wurde dieses Jahr der erste offen schwule Präsident Europas in Lettland gewählt.
“We’ve come from throwing shit to recognizing same gender partnerships”
Für viele ist das ein weiterer wichtiger Schritt, aber für viele ist es eben auch nur ein erster Schritt, auf den noch viele weitere folgen müssen. Auch gibt es von Seiten der Politik Versuche, Unterschriften gegen dieses erlassene Gesetz zu sammeln. Diese Kampagne sieht zwar nicht so vielversprechend aus, aber es ist trotzdem ein weiterer Widerstand, den die queere Community erlebt und eine weitere Instanz in der Queerfeindlichkeit für politische Zwecke instrumentalisiert wird.
Die aktuell größten Probleme liegen in der mangelnden Sichtbarkeit außerhalb von Pride Veranstaltungen. Helfen könnte laut Rita mehr Repräsentation queerer Menschen in der Popkultur. Durch diese einfache, alltägliche Konfrontation mit queeren Identitäten könnte Queerness für viele Menschen normalisiert werden. Von privaten Medien wie TV Net, einer der größten Nachrichtenplattformen Lettlands, gab es viel Unterstützung und Sichtbarkeit nachdem das Civil Partnership Law lange aus der Politik heraus blockiert wurde. Es fehlt auch an Bildung und Aufklärung sowie dem Wissen, wie queere Jugendliche und Kinder unterstützt werden können, gerade weil queerer Aktivismus und queere bzw. queerfreundliche Räume sich sehr auf die Hauptstadt Riga konzentrieren. Für Queers im ländlichen Raum gibt es kaum Unterstützungs – und Vernetzungsangebote. Es gibt zwar Bemühungen mehr Angebote für Jugendliche zu schaffen, diese sind aber noch nicht sehr sichtbar. Wenn es um Bildungsarbeit und beispielsweise Workshops in Schulen geht, fehlt Unterstützung von Seiten der Regierung. Rita könnte sich vorstellen, dass eine Kooperation zwischen dem Bildungsministerium und entsprechenden Organisationen dazu beitragen könnte, ein besseres System an Angeboten aufzubauen. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass es in Riga schon viele queere Gruppen, Angebote und Events gibt, die nicht nur auf die Pride Season beschränkt sind, es aber definitiv noch Lücken gibt.
Auch explizit in Bezug auf trans Themen hat sich einiges getan. Beim Schreiben ihres Buches konnte Rita kaum eine trans Person finden und es gab quasi keine trans Präsenz in Lettland, obwohl eine der ersten geschlechtsangleichenden Operation in den 1970ern in Lettland durchgeführt wurde. Dies war allerdings unter der Regierung der Soviet Union verboten und es ging dem Chirurgen auch mehr darum, sich selbst beweisen zu können, als trans Menschen zu unterstützen.
Olga Kononova, die einzige trans Frau, die Rita für ihre Buch gefunden hatte, ist kürzlich verstorben und wurde von ihrer Familie unter einem falschen Namen und als Mann beerdigt, ohne dass ihre Freund*innen aus der queeren Community überhaupt davon wussten und so auch nicht an der Beerdigung teilnehmen konnten.
Heute gibt es endlich Diskussionen um trans Rechte. Für eine Podiumsdiskussion zu queeren Rechten wurden verschiedene Politiker*innen eingeladen, die alle gut darauf vorbereitet waren, über gleichgeschlechtliche Paare zu reden, aber nicht wussten, was Stand der Dinge ist, wenn es um trans Rechte geht. Während es zwar bezeichnend ist, dass bei queeren Themen trans sein immer noch nicht mitgedacht wird, findet Rita es doch sehr wichtig und verbucht es als Erfolg, dass diese Gespräche überhaupt geführt werden. Dabei darf trotzdem nicht vergessen werden, dass es auf diese Probleme und Fragen Antworten von Seiten der Politik braucht.
Auch in der queeren Community fehlt teilweise noch das Verständnis für trans Personen. Eine befreundete nicht-binäre Person hat mir erzählt, dass im queeren Chor auf das Vorstellen mit neutralen Pronomen die Reaktion folgte, dass die Chorleitung diese Pronomen nicht möge. Auch trans feminine Personen sowie Menschen auf dem asexuellen und aromantischen Spektrum sind im Großen und Ganzen sehr unterrepräsentiert und werden in queeren Räumen nicht immer mitgedacht. Auch wenn dies meist auf Unverständnis und nicht Hass beruht, ist es wichtig darüber zu sprechen und queere Communities sicherer für alle queeren Menschen zu gestalten.
In Lettland passiert auch viel online: Es gibt trans Aktivist*innen in den sozialen Medien, eine große Trans Support WhatsApp Gruppe und gut organisierte Informationen, die online zur Verfügung stehen. Es gibt viel gegenseitige Hilfe, Austausch und Wissensweitergabe, zum Beispiel in Form von einem Taping Workshop.
Zur Pride 2022 hat Rita noch eine schöne Anekdote mit mir geteilt: Der City Council hat es nicht erlaubt offiziell die Pride Flag zu hissen, woraufhin der Bürgermeister sie aus seinem Fenster hing, mit den Worten, dass ihm das ja keiner verbieten könne. Manchmal sind es die kleinen Momente, die deutlich Widerstand zeigen.
Rita ist es wichtig zu betonen, wie viel schon erreicht wurde:
“It’s been a long journey and a lot has changed. We tend to focus on what is still left to do, it is extremely healthy to take a pause and look back, what was the starting point even if there is still a lot to do.”