Bericht aus einem Workshop zu queeren Utopien und Umweltfantasien

von Paula

“Es ist so, dass die Menschen in dieser Stadt eigentlich nur noch auf den Bäumen leben. Da oben kann man abhängen, es gibt Raves und man kann auf einer App sehen, was auf dem jeweiligen Baum so abgeht”, erzählt Astrée auf Englisch mit französischen Akzent und schaut dabei auf eine der vielen Zeichnungen, die wir vor uns auf dem roten Teppichboden ausgebreitet haben.

Wir sitzen im Tokonoma in Kassel und sprechen mit der Künstlerin Astrée Duval über unsere Utopien, die wir in der letzten Stunde gezeichnet haben. 

Vor einiger Zeit habe ich Astrées Buch Queer Communal Kinship Now! (QCKN!) online entdeckt und direkt verschlungen. (Leider ist es auf absehbare Zeit nur auf Englisch verfügbar). 

Wie viele (queere) Menschen in meinem Umfeld frage ich mich häufig, wie und mit wem ich eigentlich mein Leben verbringen soll, weil bestimmte gesellschaftliche Ideale wie die Ehe oder die Kleinfamilie einfach nicht wirklich infrage kommen.

In QCKN! werden viele dieser Fragen aufgegriffen und philosophisch untermauert.

Kurz zum Inhalt: Im ersten Teil wird ganz viel dekonstruiert. Hauptsächlich geht es um die Verstrickungen von Kapitalismus und der Idealisierung bestimmter Familien-, Beziehungs- und Verwandtschaftsmodelle. Danach wird Queer Communal Kinship als Konzept vorgestellt. Queerness als transformative Kraft, Gemeinschaftlichkeit als “psychosoziale Praxis”, die wir in unserer kapitalistischen Gesellschaft unbedingt nähren und pflegen sollten, und Verwandtschaft als ein Bereich “soziomaterieller Beziehungen”, den wir neu denken müssten, um ein wirklich ethisches Miteinander zu ermöglichen. 

QCKN! ist aber (leider) keine Schritt-für-Schritt-Anleitung dafür, wie wir unser Leben und unsere Beziehungen tatsächlich umgestalten können. Stattdessen beschreibt Astrée es als eine “Reihe von Werkzeugen” für die Entwicklung neuer Geschichten, neuer Narrative der Zugehörigkeit (“new narratives of belonging”). Es ist ein enthusiastischer Text, der dazu ermutigt, sich gedanklich auszuprobieren und daran zu glauben, dass eine andere Welt möglich ist. Und daran will ich unbedingt glauben.

Als ich Astrées cute Website nach der Lektüre nochmal checke, sehe ich, dass sie auch einen Workshop zu diesen Themen anbietet und ich dachte, Kassel könnte so einen Workshop vertragen. 

Astrée, die sich online selbst als dancefloor mystique, transfem queen und socialist agitator beschreibt, hat so eine Art an sich, die die Atmosphäre ganz weich und angenehm macht. Sie erzählt viel, sehr schlaue und sehr weirde Dinge, und dadurch kommt man sich selbst ein bisschen weniger weird vor. Und so kommen wir nach einer Kennenlernrunde leicht ins Gespräch.

Der Workshop selbst besteht aus einem Gesprächs- und Bewegungsteil und einem zeichnerischen Teil. Astrée erzählt, der zeichnerische Teil des Workshops sei unter anderem inspiriert von der Arbeit der US-amerikanischen feministischen Architektin Noel Phyllis Birkby. Kleiner Exkurs: Als eine von 6 Frauen (unter knapp 200 Männern) schloss Birkby 1966 ihr Architekturstudium an der Yale University ab. Ihr Leben lang beschäftigte sie sich mit Macht- und Herrschaftsstrukturen im Bereich der Architektur: Wenn es ausschließlich (weiße) Männer sind, die Gebäude und Städte planen und bauen, werden die Bedürfnisse von Frauen und anderen marginalisierten Gruppen häufig nicht berücksichtigt. Darüber sprechen wir ja heute auch noch, wenn es z.B. darum geht, wie wir Städte und Transportmöglichkeiten barrierefrei gestalten oder Straßen so ausleuchten, dass sich alle auf ihrem nächtlichen Heimweg sicher fühlen können.

In den frühen 1970ern schloss Birkby sich der Frauenbewegung an, lebte fortan offen lesbisch und war Teil einer der ersten sogenannten “consciousness raising groups” in New York City, in denen Frauen sich über den strukturellen Sexismus, den sie täglich erlebten, austauschten und gegenseitig unterstützten. 

Eines ihrer wichtigsten Projekte waren die Environmental Fantasies Workshops, die manchmal mehrere Tage dauerten und in denen Birkby ganz verschiedene Frauen fragte, wie ihr ideales Lebensumfeld aussehen würde. Dazu gehörte nicht nur die konkrete Architektur von Häusern, sondern auch, wie und wo die Frauen essen, schlafen, arbeiten, socializen, lernen, Sex haben oder entspannen wollten. Birkby bat die Teilnehmerinnen, alle Vorannahmen und Denkmuster zu vergessen und ihre Fantasien, ihre Utopien, zeichnerisch festzuhalten. Die Fantasie zu stärken und Ausdrucksformen für sie zu finden, war Birkby wichtig, weil damit immer auch eine intensive Auseinandersetzung mit der eigenen Erfahrungswelt einhergeht (vgl. Noel Phyllis Birkby)

Jedenfalls: Die gleiche Aufgabe stellt uns auch Astrée an diesem Samstagnachmittag. Vergesst alles, was ihr wisst. Wie würdet ihr dann leben wollen? Nach einigen nachdenklichen Minuten vor dem leeren Papier, in denen ich es geschafft habe, zumindest ein paar Dinge, die ich weiß, zu vergessen, beginne ich zu zeichnen: spontan denke ich an einen endlos langen, vielfach gebogenen und verästelten Tisch, der sich über eine große Wiese schlängelt und mit genug Snacks gedeckt ist, um ein ganzes Dorf zu versorgen. Drumherum große, weiche Kissen und Decken, sodass man bequem vom Snacken ins Schmusen übergehen kann (das ist ganz wichtig!). Und am Horizont organisch geformte, wahrscheinlich aus Pilzen bestehende Bauten, die ich zusammen mit meinen Friends bewohne. Ich merke, dass es mir schwerfällt, mich wirklich zu lösen von dem, was “realistisch” ist und ein paar absurdere Gedanken zuzulassen.

Aber genug von mir. Now it’s your turn: Wenn du alles vergisst, was du weißt: Deine Vorstellungen von dem, was Familie ist. Die Erwartungen, die andere an dich und dein Leben haben. Wie ein Haus aussieht. Das, was man dir über Leistung, Karriere und Erfolg erzählt hat. Wie sieht dann dein Alltag aus? Wo wachst du auf, mit wem hängst du ab, was siehst du, wenn du dich umschaust? Hier ist ein bisschen Platz für deine Utopien: