Ein Text darüber warum Alice Weidel nicht queer ist

Von Emil Trunk Ekanayaka

CW: Dieser Text behandelt queerfeindliche Narrative in Vergangenheit und Gegenwart.

Auf die Frage einer ARD-Zuschauerin, wie die AfD-Chefin Alice Weidel mit Queerfeindlichkeit in ihrer Partei umginge, antwortete diese, sie sei nicht queer, sondern mit einer Frau verheiratet. Diese Aussage nehme ich mir hier zum Anlass, um über negative Darstellungen von queeren Leben zu sprechen und darüber, was Alice Weidel mit ihrer obigen Aussage meint.

Queerfeindlichkeit vom Kaiserreich bis heute

Der Mensch mag Menschen, die sind wie er, mit denen er eine Gemeinschaft bilden kann. Es ist immer einfacher, Bande mit anderen zu knüpfen, wenn sie einem ähneln. In Bezug auf nicht cisheterosexuelle Personen, die sexuellen bzw. geschlechtlichen Abweichler einer heteronormierten Welt, bedeutete das (und bedeutet oftmals auch heute noch) Ausgrenzung, Verfolgung und Gewalt. Dieser Hass wird durch gewisse Annahmen und Narrative befeuert, die immer wieder aufgegriffen und reproduziert werden, mögen sie noch so oft als falsch bewiesen worden sein.

Wir beginnen unsere Reise in die Vergangenheit in der Zeit des Kaiserreichs. Ein grundlegendes Problem für die Wahrnehmung von Homosexuellen war und ist der Begriff der Sodomie. Dieser wurde in §175: Die widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Thieren begangen wird, ist mit Gefängniß zu bestrafen., als Gesetz festgeschrieben und stellt hier zwei vollkommen unterschiedliche Handlungen auf die gleiche moralische Ebene. Jegliche sexuelle Handlung zwischen zwei Männern, also auch einvernehmlicher Sex, wird hier mit Zoophilie, der Vergewaltigung von Tieren, gleichgesetzt. Wir sehen auch, dass die lesbische Sexualität (in der Gesetzgebung) keine Rolle spielt.

Der Grund hierfür bestand nicht in der Akzeptanz dieses Verhaltens, sondern darin, dass man der Frau keine eigene Sexualität zugestand. Den männlichen Homosexuellen andererseits hielt man für ein lustgeleitetes Wesen, eine Art Tier, das nur nach der Erfüllung seines Sexualdrangs strebt. Diese Ideen schwingen auch heute noch in der oftmals hypersexuellen Darstellung schwuler Männer in Film und Fernsehen mit oder, weniger subtil, in einer kürzlich getätigten Aussage des Papstes. Dieser meinte nämlich, es gäbe schon jetzt zu viel „Schwuchtelei“ in den Priesterseminaren, und weigert sich, Männer mit tiefsitzenden homosexuellen Tendenzen“ zur Priesterausbildung zuzulassen. Dass alle Priester, hetero- wie homosexuelle, nach geltendem Kirchenrecht Zölibat halten sollen, scheint hierbei keine Rolle zu spielen.

Dieses trieborientierten Stereotyp nutzte man auch dazu, um Angst vor Schwulen zu schüren, da man ihnen vorwarf, als Vergewaltiger heterosexueller Männer oder als Pädophile der „normalen“ Bevölkerung schaden zu wollen.

Neben dieser Idee des Homosexuellen als Triebtäter existierte aber gerade zur Zeit des militärorientierten Kaiserreichs noch ein weiterer Stereotyp: der schwache, verweichlichte und verweiblichte Homosexuelle. Wenn sich zwei Männer miteinander einlassen, erniedrigt sich einer der beiden im tradierten Geschlechterverständnis zur Frau, er verliert somit seine Männlichkeit und stellt eine Gefahr für das Wohl des Reiches da, denn eine Frau könnte auf keinen Fall Deutschlands „Platz an der Sonne“ im Wettstreit der europäischen Kolonialmächte verteidigen. Entsprechend große Wellen schlug auch die Eulenburg-Affäre, während der homoerotische Briefe aus dem Umfeld Kaiser Wilhelms II. auftauchten. Damit konnte der Kaiser, der Frieden mit anderen europäischen Staaten

Dieses trieborientierte Stereotyp schließen wollte, in der Presse als schwach überführt werden, denn sein homosexueller Umgang bewies, dass er sich von Bismarcks militärischem und damit männlichen Kurs abgewandt hatte.

Auch die Nazis sahen Homosexuelle aus ebendiesen Gründen als Gefahr für ihre militärische Stärke. Zudem verwehrten homosexuellen Männer wie Frauen, sofern sie „arisch” waren, der „Volksgemeinschaft“ den Dienst, denn sie pflanzten sich nicht fort. Damit waren sie ein Feindbild für die klassische, von den Nazis propagierte Familie aus Mutter, Vater und vielen Kinder und blieben es
lange nach Ende des NS-Regimes. Für viele Konservative ist die bloße Existenz homosexueller und transgeschlechtlicher Menschen ein Versuch, die Kernfamilie zu zerstören, denn mit ihrer bloßen Existenz brechen queere Menschen mit altbekannten Geschlechternormen. Eine Regenbogenfamilie bedeutet dann in ihren Augen den endgültigen Sittenverfall, da ein Kind schließlich eine Mutter und
einen Vater braucht, wie die AfD auch 2024 noch in ihrem Wahlprogramm verkündet. Liebe und Geborgenheit sind zweitrangig, wenn die Optik stimmt, auch wenn natürlich das Kindeswohl als Grund für erschwerte Adoption (oder gar ein Verbot) durch gleichgeschlechtliche Paare vorgeschoben wird.

Der Vorwand, Kinder und erweitert dazu auch Frauen schützen zu wollen, ist heutzutage der wohl zentralste Punkt queerfeindlicher Rhetorik. Mit Schlagwörtern wie Genderwahn und Indoktrinierung wird Angst erzeugt und ein Feindbild geschaffen. Natürlich wollen Eltern nicht, dass ihre Kinder dazu erzogen werden, einer bestimmten (radikalen) Ideologie zu folgen. Diese radikale Ideologie bedeutet aber in den allermeisten Fällen nur, dass Kinder eine altersgerechte, wissenschaftlich fundierte Sexualerziehung erhalten und Schulen neutral über nicht cis-heterosexuelles Leben sprechen. Auch die Proteste gegen Drag-Lesungen wie in München 2023 schreiben sich Kindeswohl auf die Fahnen. Ob das Kindeswohl gefährdet ist, wenn eine bunt kostümierte Person Kinderbücher zu Selbstakzeptanz, Vielfalt und Toleranz vorliest, sollte keine Debatte auslösen.

Drag und andere Ausdrucksformen, die normierte Geschlechtervorstellungen aufbrechen – wie in den Augen der Rechten leider auch die Existenz von trans Personen – sind momentan die großen Ziele des sogenannten Kulturkampfs. Das gesteigerte Bewusstsein, dass es viele Arten gibt, eine Frau, ein Mann oder auch nichts von beidem zu sein, führt zu einem Kontrollverlust bei denjenigen, die sich an ihre Geschlechterstereotypen klammern. Gerade unsichere heterosexuelle Männer haben das Gefühl, durch die Emanzipation von femininen Eigenschaften ihren in Hypermaskulinität begründeten Hoheitsanspruch zu verlieren. Auch die Verabschiedung des Selbstbestimmungsgesetz hat hier noch einmal Öl ins Feuer gegossen. Wieder werden queeren Menschen, die ihr Leben friedlich und selbstbestimmt leben wollen, böse Absichten vorgeworfen: „Männer in Frauenkleidung” würden sich in Schutzräume für „echte Frauen“ drängen, um sie dort belästigen zu können; TERFs (Trans Exclusionary Radical Feminists) befürchten gar, dass solche selbstbestimmte Gesetzgebung zur Abschaffung der Frau und ihrer gelebten Realität führen wird, denn plötzlich könne ja jeder behaupten, er sei eine Frau. Dass gerade trans Frauen immense gesellschaftliche Stigmatisierung und, wie cis Frauen auch, Sexismus erfahren, sehen Vertreter:innen dieser Auffassung nicht. Stattdessen wird eine bereits marginalisierte Gruppe noch weiter dämonisiert.

Warum ist Alice Weidel nicht „queer”?

Ich habe den Anlass meines Textes nicht vergessen, wir kommen nun zu Alice Weidel und warum sie nicht queer ist. Dieser Abriss historischer und kontemporärer Queerfeindlichkeiten soll verdeutlichen, was Konservative und Rechte denken, wenn sie den Begriff „queer” hören. Für sie ist das kein Sammelbegriff für nicht cis-heterosexuelles Leben, sondern eine perverse Abweichung von einer erstrebenswerten Norm. Queer, das ist Genderwahn, Pronomen, blaue Haare, Zerstörung der Kernfamilie und, wenn wir schon dabei sind, auch noch der Verfall des Abendlandes. Queerness ist in solchen Kreisen kein Begriff, der eine Neudeutung von der Fremd- zur Eigenbezeichnung durchlaufen hat. Man verwendet ihn in seiner ursprünglichen, abwertenden Form: seltsam, unkonventionell, ein Abweichen von der Norm. Entsprechend hasserfüllt wird das Wort auch ausgesprochen, nämlich mit einem harten k-Laut am Anfang und mit spitzen Lippen, um den i-Laut zu formen; der Ekel vor diesem Wort und dem, was er bedeutet, ist fast physisch zu spüren. Kein Wunder also, dass Alice Weidel ablehnt, queer zu sein. Stattdessen ist sie mit einer Frau verheiratet, die sie seit 20 Jahren kennt.

Was Alice Weidel also nicht abstreitet, ist, dass sie lesbisch ist. Vielleicht sieht man hierin einen der großen Erfolge der LGBTQ-Bewegung: Homosexualität ist (bis zu einem gewissen Grad) normalisiert, es gibt sie in allen Parteien, Schwule dürfen heiraten, Lesben adoptieren. Die Gesellschaft akzeptiert in breiten Teilen Homosexuelle, aber nur solange sie ihre Homosexualität in einer heterotradierten Form ausleben. Das Ziel muss weiterhin Ehe, Haus, Kind und Gartenzwerg bleiben; man soll ein heterosexuelles Weltbild leben, in dem, wie durch Zufall, ein gleichgeschlechtliches Paar gelandet ist. Das sind also die guten Homosexuellen, die keine absurden Dinge wie freie Selbstentfaltung und den Abbau von gefährlichen und schädlichen Stereotypen fordern. Das sind Homosexuelle, die ihren Platz in der gesellschaftlichen Hackordnung, die Heteronormativität priorisiert, kennen und akzeptieren, statt die Rangordnung zu hinterfragen und aufbrechen zu wollen.

Eine queere Person könnte keine rechte Partei anführen, denn ein zentraler Aspekt von Queerness ist die freie Entfaltung des Selbsts in einem toleranten Miteinander; rechte Parteien dagegen wollen eine auf veraltete Stereotype und Geschlechterrollen begründete Gesellschaft. Kein Wunder also, dass Alice Weidel nicht queer, sondern nur mit einer Frau verheiratet ist.