Ich hätte nie gedacht, dass das Lesen eines Satzes mein Leben verändern würde. Ich war 16 und hatte keine Ahnung, wer und was ich eigentlich bin. „Ein richtiger Junge“, so wie mein Papa sich das immer gewünscht hatte, war ich jedenfalls nicht und nie gewesen. Das hatte ich sechzehn Jahre lang versucht und es wollte mir einfach nicht gelingen. In den letzten zwei Jahren hatte ich dieses „Schwul-Sein“ ausprobiert, weil meine Mitschüler*innen mir zu verstehen gaben, dass ich nicht wie die anderen Jungs sei. Klarer Fall: Schwul. Nur war der Fall alles andere als klar, denn ich fand Männer zwar interessant und sexy, aber mir wurde zunehmend bewusst, dass es nicht die Körper anderer Menschen waren, sondern mein eigener, mit dem ich etwas anstellen musste.
Mein androgyner Look und die blondierten Haare, die es mir erlaubten, aus dem einengenden Gefängnis stereotyper Männlichkeit auszubrechen, konnten mich nicht mehr darüber hinweg trösten, dass sich mein Körper mit jedem fortschreitenden Tag der Pubertät, jedem neuem Barthaar und jeder Note, um die meine Stimme tiefer wurde, fremder anfühlte.
Also saß ich wie alle normalen Millenials, die nicht wissen, was eigentlich mit ihnen los ist, vor meinem Computer und konsultierte Doktor Google. Meine eigene Verdachtsdiagnose, von der ich eigentlich nur eine vorurteilsbelastete Idee hatte, was sie eigentlich bedeutete, verursachte mir beim Eintippen in die Suchzeile Gänsehaut. Die Stimme meiner damals besten Freundin, die gerne über „Transen“ als bemitleidende Figuren witzelte, meine katholische Religionslehrerin, die Nachfragen nach homosexuellen Paaren im Unterricht mit „ihr kennt die Einstellung der Kirche dazu“ beantwortete und der Papst, der Schwule und Transsexuelle in der Hölle schmoren sah, jagten mir durch den Kopf. Doch da war es schon Schwarz auf Weiß auf dem Bildschirm: Transsexuell. 2.910.000 Suchergebnisse. Und dann las ich diesen Satz, der alles verändern sollte: „Du musst nichts gleich entscheiden, aber öffne dich für die Möglichkeit, dass du transsexuell bist, und beobachte, was es in dir auslöst.“ Es war der letzte Satz, den der Junge las, der ich sechzehn Jahre lang vorgab zu sein, und der erste, den die Frau las, die ich immer sein sollte.
Angst vor dem Erzbischof
„Wenn das Erzbistum davon erfährt, könnten wir Probleme bekommen“, sagte mein damaliger Schulleiter. Abgesehen von dieser Angst, der Kölner Erzbischof oder ein Vertreter könnten unangemeldet vorbeikommen und mich der Schule verweisen oder mich mit ihrem Blick direkt in die Hölle schicken, ging meine katholische Schule tatsächlich besser mit meinem Coming-out um als angenommen. Manchmal ging meinen Lehrer*innen noch mein Deadname über die Lippen und die Kinder aus der Mittelstufe tuschelten „es kommt“, wenn ich über den Flur ging, doch befürchtetes Hardcore-Mobbing blieb glücklicherweise aus. Hart traf mich allerdings die Reaktion meiner damals besten Freundin, die mir sagte: „Du wirst niemals eine Frau sein.“
Der Weg zur rechtlichen Anerkennung und medizinischer Behandlung, wie etwa die Hormontherapie, war gelinde gesagt ein Höllenritt. Ein Papierkrieg mit dem Gericht, Ärzt*innen, meiner Krankenkasse und Behörden sowie Gespräche, in denen ich mich immer wieder erklären musste: „Ja, ich bin eine Frau. Ja, ich will diese Behandlung wirklich.“ Manchmal war ich so verzweifelt, dass ich dachte, ich stehe das nicht durch. Doch meine frühere beste Freundin sollte nicht Recht behalten. Im Sommer nach meinem Abi war nach anderthalb Jahren meine Namensänderung durch und ich war auch auf dem Papier endlich eine Frau.
Fürs Studium zog ich in eine fremde Stadt, in der mich niemand kannte. Ich sprach mit niemandem darüber, dass ich früher einen anderen Namen hatte und nicht als Mädchen aufgewachsen war. Ich wollte mich nicht ständig erklären müssen und einfach mein Leben als junge Frau genießen. Es war ein Neuanfang ohne den ganzen Ballast, so glaubte ich damals zumindest. Aber die erhoffte Idylle blieb aus, denn die Mauer, die ich um mich herum aufbaute und dafür sorgte, dass niemand allzu viel über mich erfuhr, machte mich sehr einsam. Erst über mein politisches Engagement traf ich so viele tolle Freiheitskämpfer*innen, Feminist*innen und queere Menschen, die mir zeigten, dass wir alle eine Berechtigung in dieser Welt haben und es uns nicht nehmen lassen dürfen, die zu sein, die wir sind. Endlich lernte ich mich nicht mehr zu schämen und zu verstecken.
Heute weiß ich, dass meine Transidentität ein Teil von mir ist und immer sein wird. Und dafür engagiere ich mich und gehe auf die Straße. Weil alle ein Leben in Würde und ohne Diskriminierung verdienen. Deswegen sage ich heute selbstbewusst: Ich bin eine Frau, ich bin trans und das ist auch gut so.
Diese Coming-out-Story ist zuerst in der Herbst-Ausgabe der out! erschienen. Vielen Dank an die Autorin: Nyke!